Autofahren + Mobilität

So entwickelt man Brillengläser fürs Autofahren

Ein Blick hinter die Kulissen: Entwicklung DriveSafe bei ZEISS

10 April 2022
  • So entwickelt man Brillengläser fürs Autofahren

ZEISS hat ein neues Brillenglas entwickelt – optimiert für das Autofahren. Es handelt sich dabei nicht um eine Spezialbrille, sondern um eine Alltagsbrille, die den ganzen Tag getragen werden kann. Sie enthält drei interessante Features, die das Autofahren mit Brille angenehmer und sicherer machen. BESSER SEHEN befragte Dr. Christian Lappe, Scientific Affairs & Technical Marketing, und Frank Mielich, Project Manager DriveSafe/Technology & Innovation/New Product Implementation, die die Entwicklung von DriveSafe mit umgesetzt haben.  

BESSER SEHEN: DriveSafe Brillengläser sind die neue Innovation aus dem Hause ZEISS. Wie entwickelt man solche speziellen Brillengläser für das Autofahren und warum?

Christian Lappe:  Die Basis der Entwicklung von DriveSafe ist ganz klar ein Kundenbedürfnis, um das wir schon ein wenig länger wissen. Befragungen und auch Kundenfeedbacks bei unseren Optikern und Brillenträgern haben deutlich herausgestellt, dass viele Brillenträger sich beim Autofahren, was das Sehen betrifft, nicht komfortabel, sogar unsicher fühlen. Die klare Botschaft war der Wunsch nach einer Alltagsbrille, die das Autofahren angenehmer macht.

Frank Mielich:  Das Sehen beim Autofahren ist eine sehr komplexe Angelegenheit und hängt von vielen Faktoren ab – wie z.B. Sehschwäche, Lichtempfindlichkeit. Wir wollten ganz genau wissen, ob es Sehprobleme im Straßenverkehr gibt, die die meisten Autofahrer gleichermaßen betreffen. Durch breit angelegte Marktforschungen in Deutschland und USA untersuchten wir, was gutes Sehen beim Autofahren ausmacht und wo die Schwierigkeiten beim Sehen im Straßenverkehr liegen. Uns überraschten die hohen Werte und die extreme Bündelung der Sehprobleme, die genannt wurden. Da sind einmal die unangenehmen Blendeffekte – gerade im Falle schlechter Lichtverhältnisse bei Dämmerung, Regen, Schneefall oder beim Nachtfahren – sowie das schlechtere Sehen bei diesen Lichtverhältnissen. Wer kennt das nicht?

Christian Lappe:  Hinzu kommt, dass sich manche Gleitsichtträger beim für das Autofahren dynamischen Sehen mit den damit verbundenen schnellen Kopf- und Augenbewegungen nicht optimal versorgt fühlen. Die eingeschränkten Sehbereiche bei klassischen Gleitsichtgläsern wurden als nicht optimal angesehen. Mit diesen Aufgaben und Fragestellungen gingen wir dann in die Entwicklung einer Sehlösung für das Autofahren.

BESSER SEHEN: Was steckt in diesen Brillengläsern im Vergleich zu herkömmlichen? Wieso machen DriveSafe Brillengläser das Autofahren angenehmer und somit auch sicherer?

Christian Lappe: Die Entwicklung von DriveSafe Brillengläser beruht auf drei Säulen:

  1. der Erkenntnis der Pupillendynamik bei Autofahren und der Abbildungsgüte auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen,
  2. der unangenehmen Blendung beim Fahren,
  3. der speziellen Sehsituation beim Autofahren mit einer Gleitsichtbrille.

Die erste Säule zielt auf die Erkenntnisse der Pupillendynamik. Wir wissen, dass sich unsere Pupillengröße den Lichtverhältnissen anpasst. Bei ungünstigen Lichtverhältnissen mit wenig Licht ist unsere Pupille vergrößert. Der Mechanismus unseres Auges, durch Vergrößerung der Pupille mehr von dem weniger vorhandenen Licht in unser Auge zu lassen, hat aber auch Auswirkungen auf die Abbildungsgüte. Das verhält sich ähnlich wie beim Fotografieren. Mit der Blende steuert der Fotograf, wie viel Licht auf den Bildsensor fällt. Diese Einstellung beeinflusst aber die Tiefenschärfe. Je weiter die Blende geöffnet ist, desto geringer wird die Tiefenschärfe. Mit unserer Pupille verhält es sich vergleichbar. Bei weit geöffneter Pupille gelangt mehr Licht auf die Netzhaut, und die Tiefenschärfe verringert sich. Zusätzlich wird das Licht in den Randbereichen durch die Linse des Auges auch anders gebrochen. Der Brechpunkt der Randstrahlen trifft nicht die richtige Stelle auf der Netzhaut. Die Folge können Einschränkungen beim Sehen mit weit geöffneter Pupille sein.

So haben wir das Brillenglasdesign bei DriveSafe dahingehend optimiert, dass wir eine größere Pupille als bei hellem Licht tagsüber berücksichtigen. Insbesondere beim Tragen von Gleitsichtbrillen spielt diese Optimierung eine Rolle und unterstützt das Ziel, das Sehen mit DriveSafe auch bei schlechten Lichtverhältnissen angenehmer zu machen. Unsere Ergebnisse münden in der Luminance Design® Technology.

Frank Mielich: Die zweite Säule kümmert sich gezielt um das Thema Blendung. Generell muss man zwei Blendungsarten unterscheiden: erstens die „Disability Glare“, d. h. eine physiologische Blendung, die das Sehen dahingehend beeinflusst, dass man nichts mehr erkennt – z.B. wegen eines starken Blitzes –, und zweitens die „Discomfort Glare“, die psychologische Blendung, die als unangenehm, irritierend und störend empfunden wird. Scheinwerfer entgegenkommender Autos oder Straßenbeleuchtung werden oft von Fahrern als Ursache für eine solche psychologische Blendung genannt.

Bei vorliegender „Disability Glare“ haben wir sehr einfache und effektive Mechanismen, um unsere Augen zu schützen: Wir schließen die Augen oder wenden die Augen weg von der Blendquelle. Dieses Verhalten ist sinnvoll – und wird auch durch ein Brillenglas des täglichen Gebrauchs nicht beeinträchtigt. Uns geht es um den „Discomfort Glare“, die als störend und unangenehm empfundene Blendung. Eines der besten Beispiele ist die Blendung durch die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs, das bei schlechten Lichtverhältnissen verursacht wird. Wissenschaftliche Untersuchungen und auch die Marktforschung bestätigen, dass die wahrgenommene Blendung mit dem Scheinwerferlicht entgegenkommener Fahrzeuge mit LED oder Xenon-HID-(High Intensity Discharge) Scheinwerfern in Verbindung gebracht wird. Die spektrale Zusammensetzung des Lichts scheint dabei eine besonders wichtige Rolle zu spielen. Diese modernen LED oder Xenon HID Lichtquellen zeigen besondere Ausprägungen im hochenergetischen sichtbaren Bereich des Lichtspektrums, das heißt zwischen 440 bis 470 nm.

Diese Beschichtung kann auch bei Tageslicht und im Alltag ohne Einschränkungen getragen werden.

Christian Lappe Scientific Affairs & Technical Marketing bei Carl Zeiss Vision

Christian Lappe:  Mit Hilfe der DriveSafe Beschichtung erreichen wir, dieses unangenehme kurzwellige Licht, d.h. den blendenden Anteil im Lichtspektrum, selektiv abzuschwächen. Wichtig: Diese Beschichtung kann auch bei Tageslicht und im Alltag ohne Einschränkungen getragen werden.

Selbstverständlich erfüllen die Brillengläser mit dieser Beschichtung die Normen bezüglich der KFZ-Tauglichkeit.

Frank Mielich:  Und: Die DuraVision® DriveSafe Beschichtung hat in puncto Härte und Reinigungseigenschaften dieselbe Klasse wie unsere Premiumbeschichtung DuraVision® Platinum!

Christian Lappe:  Die dritte und letzte Säule widmet sich der Optimierung von Gleitsichtbrillen für das Autofahren. Das Sehen im Auto ist ein ganz besonderes, konzentriertes und herausforderndes Sehen. Es ist äußerst dynamisch. Wir wechseln den Blick von der Straße auf das Armaturenbrett, den rechten Außenspiegel, den linken, den Rückspiegel, auf die Straße… und das sehr schnell. Die Sehbereiche der Gleitsichtbrille müssen dem Rechnung tragen, so dass der Brillenträger entspannt und natürlich in alle Sehentfernungen deutlich sieht. Dazu haben wir das Brillenglasdesign auf die Sehbedürfnisse beim Autofahren hin optimiert. Wichtig war uns allerdings, dass kein Brillenwechsel stattfinden muss, wenn man aus seinem Auto aussteigt. Wir haben beim Gleitsichtglasdesign von DriveSafe den Fern- und Übergangsbereich so angelegt, dass er groß genug ist, um die Blickführung beim Autofahren optimal abzubilden. Dennoch ist der Nahbereich beispielsweise zum Lesen groß genug, um die Brille den ganzen Tag nutzen zu können.

BESSER SEHEN: Wie testet man solche Brillengläser?

Frank Mielich:  Gerade bei DriveSafe haben wir eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Analysen durchgeführt, um die drei genannten Bedürfnisse im Detail zu beleuchten. Immer wieder haben wir dies mit Hilfe von Testpersonen in der praktischen Anwendung getestet und verifiziert, wie sie beim Autofahren sehen und ob sich ihr Sehen mit bestimmten neu entwickelten Prototypen von DriveSafe entscheidend verbessert – bis wir zum finalen DriveSafe Produkt kamen.

  

Wir haben uns im Rahmen von Studien angeschaut, wann sich Menschen wie geblendet fühlen. Wo sind quasi die „Schmerzgrenzen“? Bei welcher Blendung kann man beispielsweise noch Buchstaben lesen? Wie verhält sich das bei unterschiedlichen Produkten, Blendungsintensitäten und Beschichtungen/Filtern? Wir haben die Brillenglas-Prototypen ausgiebig getestet, wie Menschen damit sehen. Eine Vielzahl an Probanden hat unsere Prototypen getestet und uns basierend auf einem sehr umfangreichen Fragebogen ihr Feedback gegeben. Besonders wichtig war uns dabei, wie sich die Testpersonen mit den neuen Brillengläsern fühlen, beim Autofahren und im Alltag. Dieses Real-Life-Testing ist uns sehr wichtig. Deshalb wurden großangelegte interne und auch externe Trageversuche in diesem Projekt durchgeführt.

Mit dem Institut FKFS haben wir das Blickverhalten beim Autofahren analysiert. Wie sind die Blickwechsel? Wohin wird wie lange geblickt? Wie bewegen sich dazu Augen und Kopf? Die Testpersonen wurden dazu in einem speziell ausgestatteten, mit Kameras ausgerüsteten Testauto beim Fahren genau beobachtet. Dadurch haben wir sehr wichtige Erkenntnisse darüber erlangt, wie ein Gleitsichtbrillendesign für das Autofahren optimiert werden muss.

BESSER SEHEN: Wie sind unser Blickfeld und unsere Blickwechsel beim Autofahren? Was ist anders als im Alltag?

Christian Lappe:  Unsere moderne Welt fordert unser Sehen immer mehr heraus. Das ist uns gar nicht immer bewusst, aber unsere Augen werden durch die modernen Lebensgewohnheiten mit neuen Anstrengungen konfrontiert. Das haben wir beispielsweise auch bei der Entwicklung von Digital Brillengläsern gesehen. Wir schauen den Tag über viel mehr in die Nähe, wenn wir unsere Smartphones, Tablets & Co. so intensiv nutzen, wie wir es tun. Wir wechseln dabei ständig schnell die Aufmerksamkeit und damit auch den Blick zwischen Nähe und Ferne. Das ist auf Dauer anstrengend für unsere Augen, und wir können unter Symptomen des sogenannten Augenstresses leiden.

Beim Autofahren haben wir es mit ganz anderen Sehsituationen zu tun, die nicht weniger anstrengend für unsere Augen sind. Wir haben hier ein sehr dynamisches Sehen, bei dem unsere Augen und der Kopf zum Einsatz kommen. Wir müssen die Fahrbahn überblicken, das Umfeld direkt oder über die Spiegel beobachten und die Instrumente in unserem Auto sehen und bedienen. Wir haben bei unseren Studien mit FKFS herausgefunden, dass wir zu 96% den Blick auf die Straße richten. Dieser Wert hat uns überrascht, denn wir hatten mit weniger gerechnet – vielleicht 80% Blick auf die Straße und 20% auf Instrumente und Spiegel. Auf der anderen Seite hat es uns beruhigt. So ist doch der Blick auf das Verkehrsgeschehen der wichtigste. Das bedeutet allerdings auch, dass wir unsere vielen Blicke, wenn wir die Außenspiegel rechts und links, Rückspiegel, Armaturenbrett mit unseren Augen checken, auf wenige Zeit verteilen. Das ist kein „normales“ Blickverhalten und extrem anstrengend für unsere Augen. So schnell hin und her blicken wir sonst vielleicht nur, wenn wir zu Fuß eine der Hauptstraßen in Paris überqueren oder bei der Schnäppchenjagd am Wühltisch im Ausverkauf... Beim Autofahren leisten wir dies oft über sehr lange Zeiträume – noch dazu häufig bei schwierigen Sehbedingungen.

So ist es vielleicht nicht mehr überraschend, dass eine darauf abgestimmte Brille hier wertvolle Hilfe und Entspannung leisten kann.

Frank Mielich:  Dies haben uns auch unsere Probanden und ersten DriveSafe Brillenträger zurückgespielt. Wir waren über das extrem positive Feedback über das finale Produkt äußerst erfreut – ob Gleitsichtbrillen- oder Einstärken-Brillenträger. Übrigens gibt es bei DriveSafe natürlich auch die Brillenglasvariante für Sportbrillen.

BESSER SEHEN: Welcher Moment war für Sie selbst der spannendste innerhalb der Entwicklungszeit von DriveSafe?

Frank Mielich:  In einem kleinen Expertenkreis haben wir zuerst einige Prototyp-Varianten getestet – unterschiedliche Kombinationen von Brillenglasdesigns und Beschichtungen (2x2 Kombinationen). Ein neues Produkt selbst zu testen ist immer ein spannender Moment in einem Projekt – vielleicht der spannendste. Der Übergang von der Theorie in die Praxis – ungewiss, aber spannend.

Diese Brillen habe ich dann mit in den Feierabend genommen und auf der Fahrt nach Hause ausprobiert. Die erste Variante hat mich nicht überzeugt, dann wählte ich die nächste Produktkombination und testete diese zusätzlich vor dem Xenon-Licht meines Autos. Das Gefühl war genial. Ich dachte nur: Das kann etwas Tolles werden…


Diesen Artikel teilen